Hardcover, 160 Seiten, farbig, 30 x 22 x 1,6 cm
ISBN: 9783894743178
1999. Zile, ein Serbe, der alle Schweinereien der Jugoslawienkriege mitgemacht hat, will im gelobten Europa ein neues Leben anfangen. Dummerweise stützt er sich dabei auf einen Onkel, der in Dortmund der Chef eines kriminellen Clans ist. Zile bekommt von Europa nur das Schlechteste zu sehen. "Evropa" ist das serbische Wort für Europa. Der Comic spielt im Jahr 1999, ersichtlich an der Bombardierung der Chemieanlagen von Pancevo durch die NATO in diesem Jahr. Die Handlung umfasst etwa ein halbes Jahr, vom Frühling bis zum Winter. Der Serbe Dragan Tadic - gerufen Zile - begeht mit "Kriegskameraden" in Belgrad einen Einbruch. Spontan und gewalttätig, wie er ist, erschießt er den Polizisten, der sie dabei entdeckt. Er weiß, dass er in seiner Heimat des Lebens nicht mehr sicher ist. Also nimmt er Kontakt zu seinem in Deutschland lebenden Onkel Mile auf und macht sich auf den Weg nach "Europa". Europa, das ist für ihn das Paradies. Hier, so glaubt er, findet er ein anderes Leben als das, das er aus dem kriegsverwundeten Jugoslawien kennt. Zile hat in diesem Krieg auf serbischer Seite gekämpft. Die Erinnerungen, die ihn in der Nacht verfolgen (und die Tomaz Lavric in farblich abgesetzten Rückblenden schildert), machen die Rohheit und Menschenverachtung dieses Krieges deutlich. Ziles Vater war Minenarbeiter, ein ehrsamer, der Meinung des Onkels nach zu ehrsamer Mann, der es bei seinem frühen Tod zu nichts gebracht hatte. Obwohl Zile vom Krieg geprägt wurde und bei jeder Gelegenheit sofort zur Waffe greift, steckt in ihm doch ein Stück dieser Ehrsamkeit. Als er erkennt, mit welchen Methoden der Onkel sein Geld verdient, weiß er: Das ist nicht das Leben, das er sich in Europa erhofft hat. Er möchte ein normales Leben führen, wenn möglich an der Seite von Snezana, einer jungen Frau, die er im Betrieb des Onkels kennen und lieben gelernt hat. Er muss rasch feststellen, dass Snezana nicht nur Kellnerin im Paradiso ist. Die Bosnierin gehört zu den Frauen, die Onkel Mile nach Deutschland geholt hat, damit sie für ihn anschaffen gehen, als Prostituierte. Snezana fügt sich in ihr Schicksal, aber Zile will sie aus dieser Umgebung befreien. Er will mit ihr nach Schweden, ein Land, von dem er glaubt, dass dort Milch und Honig fließen. Um den Traum zu verwirklichen, braucht er Geld, doch seine Kumpel in Belgrad, auf die er so setzt, haben die gesamte (zusammengeraubte) Barschaft in Drogen angelegt. Also nimmt Zile sich woanders, was er braucht: Bei Geld und Autos fragt er nicht nach dem Eigentümer. Er ist nicht zimperlich, weder in seinen Absichten noch in seinen Methoden. Wir lernen in diesem Comic fast ausschließlich brutale und skrupellose Menschen kennen. Fast könnte man denken, der Autor wolle all unsere geheimen Vorurteile über die Bewohner des Balkan zusammenbringen - wäre da nicht die Spur von Menschlichkeit, die sich in Zile, Snezana, aber auch im Dicken (orig."Kugla") zuweilen Bahn bricht und den Leser aufruft, die Welt aus der Perspektive dieser drei zu sehen. Snezana, die nach dem misslungenen Schweden-Abenteuer von den deutschen Behörden aufgegriffen wird, lässt sich lieber ins zerstörte Bosnien zurückschicken, als weiter auf eine Chance in Europa zu hoffen. In Bosnien, in Brcko, sucht Zile nach ihr, doch den Frieden, den sie in der Gemeinschaft ihres Neffen Amir und in der Moschee gefunden hat, kann er ihr nicht bieten. Zile verzweifelt; Snezana war sein Strohhalm im Leben. Nun ist ihm alles egal. Ob er das Minenfeld überlebt, das er durchqueren muss, nachdem ihn sein "Kamerad" Radoje einer Bande von Räubern ausgeliefert hat, verrät uns der Comic nicht. Die Auflösung der Geschichte geschieht allein in unserem Kopf. Tomaz Lavric sagt, anders als der Vorgänger "Bosnische Fabeln" sei "Evropa" eher »ein klassischer Thriller als ein Kriegsdrama«. Ein "Roadmovie" nennt er es an anderer Stelle. Das mag seine persönliche Lesart sein - es ist allerdings unvorstellbar, wie man einen vom Krieg aus der Bahn Geworfenen wie Zile beurteilen kann, ohne seine Vorgeschichte mit einzubeziehen. Vorgeschichte, das heißt in diesem Fall - und Lavric bringt es ja selbst in seine Handlung ein - die Prägung durch die Kriegseignisse der Jahre 1991 bis 1999. "Unser Balkan ist nicht mehr das, was er früher war", sagt Zile, um seine Flucht nach Europa zu begründen. Das, was er vor dieser Zeit als Heimat empfunden hat, gibt es nicht mehr. Die Sehnsucht nach der (verlorenen) Heimat wird im Laufe der Handlung immer wieder thematisiert. Der Dicke war lange nicht mehr "zu Hause", und so fragt er Zile, was es Neues gibt. "Nichts Neues", antwortet der. "Immer nur Krieg." Die Sängerin im Paradiso trifft den Nerv der anwesenden Jugos, als sie eine Schnulze von dem verlorenen Zuhause zum Besten gibt. Der Einwanderer, von dem der Dicke Schulden kassieren soll, lamentiert, bevor er sich selbst erschießt, er habe die Heimat verlassen. Radoje, der ja selbst zur Zerstörung der alten Ordnung beigetragen hat, beklagt, er habe sich für sein Land (Serbien) geopfert. Schuldig an der Katastrophe fühlt sich keiner; jeder sieht die Ereignisse nur aus seiner Perspektive, ohne Mitleid mit dem Kriegsgegner. So rasant und abwechslungsreich "Evropa" auch erzählt ist, so dreht sich in diesem Comic im Grunde alles um den Krieg. Er hat nicht nur das Land, die Heimat der Agierenden verändert, er hat sich auch tief in die Seelen eingebrannt. "Evropa" ist ganz sicher ein Kriegsdrama. Ist es auch ein Thriller oder gar Roadmovie, wie der Autor insistiert? Es ist kein Politthriller; der Krieg ist grundlegend, aber Ziles Treiben ist nicht politisch motiviert. Die Handlung ist "thrilling", der Leser wird immer wieder mit Situationen überrascht, die den Protagonisten in Gefahr zeigen. Zile besteht alle Prüfungen, indem er sie in der ihm eigenen Manier mit Gewalt löst. Das trifft nicht nur auf das kriminelle Milieu rund um Onkel Mile zu, es durchzieht alle drei Teile des Comics. Und ein Roadmovie (eigentlich ein Filmgenre)? Zile ist auf der Suche nach Selbstfindung. Dabei war es Tomaz Lavric offenbar wichtig, seinen "Helden" möglichst weit herumkommen zu lassen. Obwohl Zile einen Ansatz von Bildung erkennen lässt, spricht er nur seine Muttersprache. Andere Idiome sind ihm fremd. Der Autor betont diesen Konflikt, indem er immer wieder fremde Sprachen und verschiedene Nationalitäten einflicht; in der Übersetzung - sowohl in der französischen als auch in der deutschen - geht davon einiges verloren, sobald sich der Protagonist in ebendiesen Ländern aufhält. Zile bleibt letztlich überall ein Fremder - nicht nur in seinem eigenen Land.